„Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Daoud Nassar, Farmer in der Westbank, Palästina
Dieser Tag gehört der Westbank. Wir fahren nach Hebron. Dies ist keine Mondlandschaft wie südlich vom See Genezareth. Es ist fruchtbares Land, in dem sprichwörtlich Milch und Honig fließen: Es gibt Weinberge, Mandeln, Feigen, Oliven und vieles mehr. Dieses Land ist interessant für die Israeli. Die Städte und Städtchen der Palästinenser sind weiß und liegen auf weißen Hügeln. Die Dächer der israelischen Siedler, die hier seit den 1980er Jahren illegal bauen, sind rot und glänzen. Blauweiße israelische Flaggen wehen im Wind.
Das biblische Wort Landnahme für die Besiedelung palästinischen Bodens durch die „Kinder Israel“ nach dem Auszug aus Ägypten bekommt für mich eine ganz neue Bedeutung. Oder vielmehr die Bedeutung, die es hat. Landnahme – das ist nichts Freundliches, das ist keine nette Kindergeschichte, wie ich sie aus meiner früheren Kinderbibel kenne: Josua, der um die Stadtmauer von Jericho marschiert und sie mit Posaunenklängen (mit Musik, AUSGERECHNET!) zum Einsturz bringt. Es geht um das Wegnehmen von Land, solchem, das jemandem gehört. Es ging damals und geht heute um Enteignung, rücksichtslos und knallhart.
Hebron ist nach Jerusalem die
zweitgrößte Stadt in Israel. Es leben dort etwa 200000 Araber und
ca 800 israelische Siedler. Sie leben mitten in der Stadt, beschützt
vom Militär. Überall stehen bewaffnete Posten.
Hebron ist ein
Zankapfel, ein heißes Eisen. Es war die Heimat des Erzvaters
Abraham, relevant für den Islam ebenso wie für das Judentum. Die
Al-Ibrahimi-Moschee war früher eine Kirche, heute ist sie zu 60 %
eine Synagoge und zu 40 % eine Moschee. Wir besichtigen die Moschee.
Es fängt schon gut an. Die Frauen müssen einen muffelnden
Kapuzenumhang anziehen, in dem wir aussehen wie Mitglieder vom
Kukluxklan. Fotografieren lassen möchte ich mich darin nicht. Ich
bin drauf und dran, derart verkleidet gar nicht reinzugehen, aber die
Neugier überwiegt. Wir hören die Juden nebenan beten. Zusammen geht
es nicht. Wir dürfen dort nicht rein, es ist Sabbat. Am Freitag
dürfte man nicht in die Moschee. Permanent fallen die Wörter nicht
erlaubt, nicht dürfen, nicht sollen. Wie soll man da noch Lust an
der Religion haben, zumal als Frau?
Unser Guide Khaled hat viel zu
berichten – an diesem Ort und von diesem Ort. Wir haben Khaled extra
angeheuert; Iman, die Israelin, darf auf palästinischem Gebiet nicht
führen. An diesem Tag also redet Khaled und er tut es ebenso
engagiert wie eloquent. Er redet wie ein Buch.
1994 gab es ein
Blutbad in der Moschee, angezettelt von einem israelischen Arzt, der
dort Amok lief und eine zweistellige Zahl betender Muslime erschoss,
darunter zwei Kinder. Den Rest erledigten israelische Soldaten, als
die Betenden sich zu wehren versuchten.
Sie legten der
palästinensischen Bevölkerung Daumenschrauben an, viele Geschäfte
und Betriebe wurden auf Befehl der israelischen Armee mit allem Drum
und Drin geschlossen. Es gibt Ladenbesitzer, die ihr Geschäft seit
1994 nicht mehr betreten haben.
Bei unserem Rundgang durch die
Altstadt Hebrons sehen wir überall Spuren, wie sich die Israelische
Siedlungspolitik austobt. Die Palästinenser werden vertrieben und
geben auf. Ausgestorbene Straßen, die Souks sind halb leer, die
Stadt gleicht auf weiten Strecken einer Geisterstadt; überall steht
Militär. Unser palästinensischer Guide nimmt kein Blatt vor den
Mund. Wiederum hören wir eine lange Geschichte von einseitiger
Einschüchterung, von Sadismus, Provokation, Quälerei, Demütigung,
offener und verhohlener Aggression, Respektlosigkeit. Es ist eine
Sache, über all das von weit weg zu hören, und eine ganz andere, es
mit eigenen Augen zu sehen und an den Einzelschicksalen teilzunehmen.
Es ist himmelschreiend ungerecht. Es ist viel schlimmer, als ich
gedacht habe und es macht mich wütend.
Der gequirrlte Wahnsinn,
rutscht es mir raus, und eine Kollegin raunt mir zu: Das kommt dabei
heraus, wenn zwei Macho-Religionen aufeinander treffen.
Ich kaufe
aus Protest gefühlt den kompletten Vorrat an Palästina-Bändchen
auf, den kleine Jungen mit bittendem Augenaufschlag für 5 Schekel
pro Stück an Mann oder Frau bringen wollen, und für meinen Sohn
kaufe ich ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Jerusalem is
Palestine’s capitol.“
Am Nachmittag dann der Kontrapunkt: Auf der Rückfahrt nach Bethlehem besuchen wir die Farm von Daoud Nassar in den Bergen. Die Familie Nassar hat ihr Land 1816, vor 100 Jahren, von den Türken gekauft. Sie sind umzingelt von Siedler-Gruppen, halten als einzige noch hier aus. Seit 1991 sind sie im Streit mit den Gerichten. Man kann sie nicht einfach enteignen, da sie Dokumente vorlegen können. Die Siedler greifen zu perfiden Mitteln, um sie loszuwerden. Sie haben die Zufahrtsstraße zur Farm der Nassars zugeschüttet – bei der Ankunft mussten wir über Erdhaufen und Geröll steigen. Einmal, 2014, zerstörten Bulldozer eine große Aprikosenplantage 10 Tage vor der Ernte.
Sie dürfen nichts, nicht bauen, nichts entwickeln, sie haben keinen Zugang zu Wasser, Elektrizität. Sie sind Selbstversorger und autark, haben Solarzellen. Zum ersten Mal erleben wir ökologisches Bewusstsein in Israel. Sie sammeln Wasser in Zisternen, um ihre Plantagen zu bewässern. Dass täglich Reisegruppen auf die Farm kommen, schützt sie.
Gespräch mit Daoud Nassar. Er nennt das Familienanwesen Tent of Nations Farm.
Nüchtern erklärt er, dass die Pälästinenser in einer Sackgasse sind. Ohne zusammenhängendes Land, in sich gespalten, ohne charismatische Führungs-Persönlichkeit. Die Besatzung zwingt viele Palästinenser auf drei Arten zu reagieren: Mit Gewalt, geduldigem Warten oder Resignation. Viele verlassen das Land. Es braucht einen vierten Weg. Daoud Nassar sagt Sätze wie: Wir weigern uns, Opfer zu sein. Wir weigern uns, irgend jemandes Feind zu sein. Wir werden der Herausforderung nicht negativ, sondern positiv begegnen. Er redet von Gewaltlosigkeit. Er findet Worte wie Durchhaltevermögen, nicht aufgeben, standhalten, redet von Liebe, nicht Hass. Was er sagt, erinnert mich stark an Martin Luther King.
Mit seiner Art zu reden und dem, was er sagt, zieht er alle in seinen Bann. Und plötzlich durchfährt mich blitzartig die Erkenntnis: ER ist diese charismatische integrative Person, die den Palästinensern fehlt. ER hätte das Zeug dazu.
Ich kann nicht an mich halten, ich muss ihm das sagen – nach seinem Vortrag, als noch ein bisschen Zeit ist.
Er lacht und sagt, er sei Farmer.
Einer der Kollegen meint dann noch, bei Jimmy Carter habe es auch so angefangen.
Daoud lädt uns ein, zu kommen und zu helfen, bei der Mandel-, Pfirsich-, Feigen- oder Olivenernte, für ein paar Tage oder Wochen oder länger. Sie können immer Leute brauchen. Wer weiß, vielleicht werde ich das eines Tages tun. Die Begegnung mit Daoud Nassar war der Höhepunkt nicht nur dieses Tages sondern der ganzen Reise. Für mich jedenfalls.