Ja, ich weiß: Ich bin nicht die Einzige, schon gar nicht die Erste, die sich einem Projekt Corona-Tagebuch verschrieben hat. Eigentlich war es der tägliche Blick in meinen Terminkalender, der mich eher spät auf diese Idee gebracht hat, und der Gedanke: „NORMALERWEISE! Normalerweise würde ich heute dies und das tun, in Zeiten von Corona aber mache ich dies und jenes oder anderes oder gar nichts.“
Die drohende Ausbreitung des Virus hat mich früh beschäftigt und war Thema im Familienchat meiner drei Geschwister und mir. Durch meine in Florenz lebende Schwester waren wir von Anfang an gut informiert über die Entwicklung der Epidemie in Italien – unsere Einschätzungen, ob sie in Deutschland einen ähnlichen Verlauf nehmen würde samt damit verbundener Einschränkungen, gingen auseinander. Im Prinzip waren wir wohl alle nicht vorbereitet auf ein derartiges Weltgeschehen, das wie eine Bombe in unser Leben platzte und dieses vom einen auf den anderen Tag auf den Kopf stellte. Mein Tagebuch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Entwicklung sondern spiegelt mein persönliches Erleben der neuen Verhältnisse wieder, die ich als ebenso tragisch wie komisch empfand, als gleichermaßen einengend wie befreiend, als in gleichen Teilen lähmend wie aufregend und hochspannend. Ich habe in dieser Zeit geweint und Tränen gelacht, geskypt, telefoniert, diskutiert, auf dem Balkon einen Roman umgeschrieben und für mich allein im stillen Kämmerlein Blues gesungen, ich habe mich gesorgt und Hoffnung geschöpft wie alle anderen. Da ich mir etwa zeitgleich zum Lockdown zwei Knochenbrüche zugezogen hatte, war ich für mein normales Leben mit Beruf und Ehrenamt gleich in doppelter Hinsicht „kaltgestellt“. Langeweile hatte ich dennoch nicht, keine Sekunde; vielmehr habe ich mir oft gewünscht, die Zeit der „neuen Normalität“ möge noch ein bisschen andauern. Im Bewusstsein meiner privilegierten Situation habe ich mich allerdings davor gehütet, meinen Wunsch öffentlich zu äußern. Auch wenn ich als ‚Zoon politikon‘ sehr rasch zu dem Schluss kam, dass unsere derzeitigen Gesellschaftsstrukturen mit einem kaputt gesparten Gesundheitssystem und an Arbeit gekoppeltem Einkommen der Grund sind, dass wir uns eine längere „Auszeit“, zu der uns die Pandemie zwang/zwingt, anscheinend nicht leisten können.
Bis heute möchte ich, wie ich es bereits ganz zu Anfang getan habe, in der sogenannten Krise vor allem ihre Chancen sehen: Entschleunigung, Stille, heilsame Unterbrechung der zuvor für ununkehrbar gehaltenen Entwicklung ‚Höher, Schneller, Weiter‘. Ein Stoppschild für den Zug nach Nirgendwo, der uns in nicht ferner Zukunft vor die Wand fahren wird. Der Planet kriegt eine Verschnaufpause. In China atmen die Kinder zum ersten Mal in ihrem Leben frische Luft. Im Meer vor Venedig werden Delfine gesichtet. Was Greta nicht gelungen ist, schafft dieses Virus! Allein dafür müsste es eigentlich den Nobelpreis bekommen! Eine Rückkehr zu einer Normalität, 1:1 zu dem, was vorher war, fände ich verheerend – bewiese sie doch nichts anderes, als dass wir Menschen nicht lernfähig sind und unsere Spezies infolgedessen über kurz oder lang dem Untergang geweiht sein wird. Noch habe ich Hoffnung, dass Corona die Weichen neu stellt und es anders kommt.