„Seht die Vögel unter dem Himmel an!“ Jesus von Nazareth
Zum Birdwatching am Morgen – es gibt Papageien und Colibris – hat es nicht gereicht. Dennoch wird dies zum Tag der Vögel und der Bäume und der Pflanzen und des Sees. Und erst in zweiter Linie zu dem der Kirchen und der Steine und des Massen- oder, sagen wir es gnädiger, Mengentourismus. Auf dem Weg zum Bus habe ich von einem Fremden eine Guave geschenkt bekommen, ihr Duft im Rucksack begleitet mich den ganzen Tag. Wir rasen am im Morgenlicht träumenden See Genezareth entlang. Was für eine Stimmung! Ich möchte gerne fotografieren, aber für einen Halt ist keine Zeit. Wir haben einen „Termin“. Eine Bootsfahrt auf dem See steht an, Ergebnis einer gestrigen Abstimmung. 7 waren dafür, 6 dagegen, der Rest hat sich enthalten. Das ist Demokratie, krähte jemand, als die Minorität ein wenig meuterte, und ich habe gedacht, ja, und dabei kommt dann so was wie der Brexit raus. Mir wird beim Bootfahren meistens übel. Diesmal ist mir schon vorher schlecht, als ich die Touristenströme über einen Steg zur Ablegestelle trotten sehe, meist im Schlepptau eines fähnchenschwenkenden Guides, damit hier auf der Einbahnstraße Richtung See auch ja niemand verloren geht.
Die Kormorane im Schilf haben Zeit und müssen nirgendwohin. Ebenso wie die Golanhöhen im Nordosten, die schon so lange da sind.
Wir fahren erst Schiff und nach der Schifffahrt fahren wir wieder Bus. Fahren durch Galiläa, die Heimat Jesu. Sehen sein grünes Land samt Avocadobäumen, Mangobäumen, Feigenbäumen, Rebenhängen, Orangen- und Olivenhainen und und und vorwiegend durch getönte Fensterscheiben.
Mitunter steigen wir aus: am Berg der Seligpreisungen, am Platz der Brotvermehrung, an einem Ort namens „Mensa Christi“ direkt am Seeufer, an dem Jesus nach seiner Auferstehung erschienen sein und mit seinen Jüngern das Mahl gehalten haben soll. Überall wo Jesus ein Wunder vollbracht hat, wo er seinen Fuß hingesetzt oder etwas Schlaues von sich gegeben hat, überall wo …, na ja, jedenfalls steht da überall eine Kirche. Mal schön, mal weniger schön. Und überall, wohin wir kommen, ist der Mensch auch schon da. Selbstverständlich im Plural. Selfies schießend, singend, seufzend, schwitzend. Selten staunend, dazu reicht die durchgetaktete Zeit nicht. Das schönste an diesen Heiligen Stätten sind die sie umgebenden traumhaft schönen Parks mit Blick auf den See, mit mediterranen Pflanzen und hohen Bäumen, in denen Vögel zwitschern.
Zum Mittagessen geht es zum Petrifischessen in ein Fischrestaurant direkt am Seeufer. Meine naive Fantasie hat sich ein verschwiegenes kleines Lokal ausgemalt, in dem wir mehr oder weniger allein sind, doch stattdessen stehen auf dem Parkplatz schon ein Dutzend weiterer Busse. Und der servierte Petrifisch hat bereits eine längere Reise hinter sich, er kommt nicht fangfrisch aus dem Genezareth-See sondern aus dem Mittelmeer. Schmecken tut er und alles andere, was gereicht wird, trotz Massenabfertigung ausgezeichnet.
Zum Nachtisch gibt es Datteln und Pappbecher-Espresso und dann geht es zur Ausgrabungsstätte des antiken Kapernaum.
Die Stadt lag an der Handelsstraße von Ägypten nach Damaskus. Drei Jahre seines Lebens hat Jesus hier verbracht – in der Absicht, das, was er zu sagen hatte, unters Volk zu bringen. Jesus: Ich hatte nie ein fertiges Bild von ihm. Für mich war er immer Mensch, nie Gott. Ich bin ziemlich sicher und nach diesem Tag noch sicherer, dass er die Natur so geliebt hat wie ich. „Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.“ Sicher bin ich auch, dass das, was wir aus seiner Lehre – und seiner Person – gemacht haben, nur bedingt in seinem Sinn gewesen wäre. Über vieles andere bin mir ganz unsicher. Ich habe die altmodische Vorstellung, dass es nach dem Tod irgendwie weitergehen könnte. Jesus hatte sie auch. Wenn „wir“ mit unserer Vorstellung richtig liegen, würde ich ihn nach meinem Tod gerne so manches fragen – von Mensch zu Mensch. Aber vielleicht ist „dann“ und „dort“ sowieso alles anders und es braucht keine Fragen mehr.